Als BR kennen Sie das Dilemma: Einerseits steigt der Bedarf an erfahrenen Fachkräften, andererseits scheiden viele Kolleg:innen lange vor dem Renteneintritt aus – nicht aus Altersgründen, sondern weil sie dem steigenden Druck körperlich oder psychisch nicht mehr gewachsen sind.
Was bleibt, ist eine demografische Schere, die Organisationen langfristig unter Druck setzt – und Betriebsräte vor die Frage stellt, wie sich Arbeitsfähigkeit sichern lässt, bevor Rückzug zur einzigen Option wird.
Leistung ist keine Frage des Alters
Leistungseinbußen werden häufig mit dem Alter gleichgesetzt – doch das ist fachlich nicht haltbar. Studien zeigen: Die Belastbarkeit unterhalb der Dauerleistungsgrenze bleibt auch im höheren Erwerbsalter weitgehend stabil (Maintz, 2003).
Was Sie aber beobachten: Ältere Kolleg:innen ziehen sich zurück – aus der Technik, aus Teams, aus Veränderungsprozessen. Nicht aus Bequemlichkeit, sondern weil es zu viel wird. Maßnahmen wie Gesundheitstage, Motivationskurse und Rückenschulungen setzen auf der persönlichen Ebene an, sie wirken aber nicht. Was fehlt, ist nicht Motivation – sondern eine Struktur, die das Alter mitdenkt, ohne es zum Defizit zu machen. Denn das eigentliche Problem liegt nicht im Verhalten, sondern im System: Die Arbeitsbedingungen sind nicht alternsgerecht. Und genau dort hat Mitbestimmung ihren stärksten Hebel – wenn sie ihn als strukturellen Eingriff versteht, nicht als Korrektiv für Symptome.
Tipp: |
Alternsgerechtes Arbeiten beginnt nicht bei Prävention, sondern bei Passung – zwischen Mensch und System. |
Altern als Gestaltungskriterium
Alternsgerechtes Arbeiten bedeutet nicht Schonung, sondern Passung. Es geht nicht um Sonderrechte oder Schonarbeitsplätze – sondern um Bedingungen, die es der gesamten Belegschaft erlauben, Leistung zu bringen, ohne sich aufzubrauchen. Wer das ernst nimmt, rückt nicht einzelne Altersgruppen in den Fokus, sondern denkt Arbeitsfähigkeit über den gesamten Erwerbsverlauf mit.
Strategisch wird das Thema dort, wo Betriebsräte nicht erst auf Einschränkungen reagieren, sondern vorausdenken wie z.B. im Schichtsystem, bei der Raumgestaltung, in der Personalentwicklung, in technischen Standards. Alternsgerechte Arbeit ist kein Zusatzthema, sondern eine Querschnittsaufgabe, die sich durch die gesamte betriebliche Gestaltung zieht.
Wenn Arbeitsbedingungen nicht mitaltern
Langzeitstudien zeigen: Es sind konkrete Arbeitsbedingungen, die älteren Beschäftigten zu schaffen machen – nicht das biologische Alter an sich.
Die Ursachen der Überlastung älterer Beschäftigter liegt oft im System: Schichtarbeit, die den Biorhythmus dauerhaft stört. Körperlich fordernde Tätigkeiten ohne technische Entlastung. Bildschirmarbeit bei schlechter Beleuchtung. Dauerstress durch hohe Anforderungen ohne Entscheidungsspielraum. Was als „normaler Altersrückzug“ erscheint, sind vielfach die Folgen solcher chronisch überfordernden Bedingungen – und diese entstehen nicht individuell, sondern im System.
Genau hier beginnt die Gestaltungsmacht des BR. Nicht durch Einzelmaßnahmen, sondern durch Regelungen, die Altern als betrieblichen Normalfall behandeln.
Tipp: |
Was als Alterserscheinung wahrgenommen wird, ist oft die Folge nicht angepasster Strukturen – nicht biologischer Grenzen. |
BR-Arbeit als demografischer Steuerungshebel
Wirksame Mitbestimmung erkennt Altern als betrieblichen Strukturparameter – nicht als Ausnahme. Das bedeutet nicht, jede Maßnahme auf Altersgruppen zuzuschneiden. Aber es bedeutet, in der Arbeitsgestaltung von Beginn an mitzudenken, wie sich physische und psychische Anforderungen über das Erwerbsalter hinweg verändern.
Konkret haben wir drei Zugänge für die exemplarische Sicht herausgenommen, die Sie systematisch nutzen können – ohne das Thema zu vereinzeln oder in Sonderregelungen abgleiten zu lassen.
Erstens: Schichtsysteme altern selten mit.
Schichtsysteme sind für die Lebensmitte optimiert, aber nicht für Menschen über 55 Jahre. Wer hier ansetzt, kann Altersverträglichkeit verhandeln, etwa durch Staffelmodelle oder reduzierte Nachtschichten ab einem bestimmten Alter. Was nach Zugeständnis klingt, ist in Wahrheit Prävention: Denn der Zusammenhang zwischen Schichtarbeit und kardiovaskulärem Risiko ist wissenschaftlich belegt – und betriebswirtschaftlich relevant.
Zweitens: Arbeitsumgebungen werden oft unterschätzt.
Beleuchtung, Raumakustik, Softwaredesign – all das hat einen Einfluss darauf, wie lange Beschäftigte leistungsfähig bleiben. Ein höherer Lux-Wert bei Bildschirmarbeit ab dem 50. Lebensjahr ist kein „Nice to have“, sondern ein Standard, der visuelle Belastung messbar senkt. Vereinbaren Sie daher konkrete Schwellenwerte – z. B. 750 Lux bei Bildschirmarbeitsplätzen für Beschäftigte ab 50 Jahre. Auch Hebehilfen, Geräuschdämmung oder kontrastreiche Darstellungen in der IT sind keine Zusatzleistungen, sondern strukturelle Notwendigkeiten.
Drittens: Strukturelle Belastung lässt sich sichtbar machen.
Gefährdungsbeurteilungen (physisch und psychisch) sowie arbeitsmedizinische Routinedaten können systematisch nach Altersgruppen ausgewertet werden. So können Sie in der Feinanalyse leichter strukturelle Maßnahmen identifizieren.
Gleiches gilt für die systematische Auswertung der BEM-Fälle in Ihrer Organisation. Idealerweise ist z.B. das BEM-Verfahren darauf ausgerichtet, neben dem Einzelfall auch Hinweise zu strukturellen Ursachen zu geben (Link zum BLOG BEM GF). So können Sie Regelungsbedarfe ableiten – nicht für Einzelfälle, sondern für ganze Teams oder Bereiche. Voraussetzung ist, dass diese Verfahren nicht nur dokumentieren, sondern auch strategisch genutzt werden.
Tipp: |
Altern muss nicht dokumentiert, sondern verhandelt werden – als Teil jeder BV zur Arbeitssystematik. |
Was Mitbestimmung hier leisten kann
Was der hier skizzierte Ansatz leistet, ist keine zusätzliche Arbeit, sondern eine veränderte Perspektive: Altern wird nicht als Problem, sondern als Prüfstein betrieblicher Gestaltung verstanden. Und das verändert die Rolle des Betriebsrats: Denn solche Maßnahmen wirken im Gegensatz zu Gesundheitskursen oder App-Angebote. Sie adressieren die Bedingungen, nicht das Verhalten. Und sie wirken nicht punktuell, sondern systemisch.
Gleichzeitig schafft der BR damit Sichtbarkeit für Themen, die in vielen Organisationen nicht als steuerbar gelten – obwohl sie entscheidend sind für die Frage, ob Menschen bleiben, gesund arbeiten oder still gehen.
Mitbestimmung, die Substanz gewinnt
Mit diesem Zugang gewinnt Mitbestimmung Profil: nicht durch zusätzliche Programme, sondern durch strukturelle Wirksamkeit. Und nicht auf dem Papier, sondern im Alltag der Organisation.
Tipp: |
Altern ist keine Einschränkung – sondern der Moment, in dem sichtbar wird, ob Arbeit trägt |
Fazit
Wo liegen in Ihrer Organisation die stillen Abgänge – und welche Strukturen tragen dazu bei?
Wer das Thema Altern konsequent aus der Perspektive der Gestaltung denkt, erkennt darin keinen Verlust – sondern einen Hebel für Zukunftsfähigkeit. Vielleicht beginnt genau hier die nächste Verhandlung. Nicht über Maßnahmen – sondern über Bedingungen, die bleiben.