Fluktuation steigt, Leistungsfähigkeit sinkt und das Betriebsklima kippt. Klassische Kennzahlen (KPI) geben keinen Hinweis auf die Ursachen, weil Belastungen nicht erfasst werden. Ein effizientes Diagnoseinstrument ist die psychische Gefährdungsbeurteilung (GBU) könnte genau hier ansetzen – wenn sie strategisch genutzt wird.
Nicht als Pflichtübung. Sondern als Diagnoseinstrument für strukturelle Spannungen.
Das gelingt mit einer GBU nur, wenn sie vier Bedingungen erfüllt – und zwar konsequent.
Erstens: Die GBU muss organisations- und nicht personenbezogen arbeiten.
Psychische Belastung ist kein individuelles Phänomen. Sie entsteht aus Strukturen, Prozessen und Führungskontexten. Sie wächst damit dort, wo z.B. Verantwortung diffus ist, Ziele widersprüchlich sind oder Entscheidungsspielräume fehlen.
Eine GBU ist somit kein Meinungsbild. Ihre Aufgabe ist es, präzise und methodisch sauber zu erfassen, wo im System psychische Belastungen entstehen. Diese diagnostische Schärfe beginnt bei der Wahl der richtigen Kriterien: Nicht vage formulierte Zufriedenheitsabfragen, sondern belastbare arbeitspsychologische Kategorien, wie sie z.B. in der DIN ISO 10075 Teil 1 definiert sind. Wer hier ungenau arbeitet, legt bereits ein schwaches Fundament für alles, was folgt – und riskiert, auf Basis irrelevanter Daten kostenintensive Maßnahmen umzusetzen, die die Probleme nicht berühren.
Tipp: |
Diagnostische Schärfe Nur valide, arbeitspsychologisch fundierte Kriterien ermöglichen es, Belastung in der Arbeitsorganisation messbar und steuerbar zu machen. Alles andere riskiert eine Nivellierung bestehender Belastungen oder teure, aber leider unwirksame Maßnahmen. |
Zweitens: Die GBU muss kontextbezogen erheben – differenziert statt nivellierend.
Organisationen sind keine homogenen Einheiten – und psychische Belastung ist kein generischer Zustand. Wer dieselben Fragen an alle richtet, differenziert nicht, sondern verwischt.
Ein Beispiel: In einer Organisation, in der bestimmte Teams intensive Kundenkontakte haben, andere jedoch nicht, bringt eine standardisierte Befragung zwangsläufig ein verzerrtes Ergebnis – entweder erfasst sie überhaupt keine Belastungen aus Kundenkontakte und blendet damit ein erheblichen Belastungsfaktor aus. Oder die Fragen gehen an alle Teilnehmenden und nivelliert damit die spezifischen Belastungssituationen, indem ein scheinbar unauffälliges Gesamtbild erzeugt wird.
Genau aus diesem Grund fordert die GDA (Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie) eine tätigkeitsbezogene Erhebung – und zwar nicht als Empfehlung, sondern als Qualitätskriterium. Wer diese Differenzierung nicht vornimmt, betreibt keine Diagnose, sondern produziert Datenmüll.
Tipp: |
Kontextbezogene Erfassung Je näher an der Arbeitsrealität die Erfassung erfolgt, umso wertvoller sind die Ergebnisse. Sie erhöhen damit die Chance, blinde Flecke der Organisation zu identifizieren und nicht mehr im „Dunkeln“ zu stehen. |
Drittens: Die GBU muss in einen professionellen Umgang mit den Ergebnissen münden – strategisch, nicht aktionistisch.
Hier entscheidet sich, ob aus einer Erhebung ein Steuerungsinstrument wird – oder eine lose Maßnahme ohne Nachhall. Viele Verfahren brechen genau an diesem Punkt ab: Die Ergebnisse liegen vor, werden durch KI interpretiert oder mit Maßnahmenkatalogen „versorgt“, ohne dass ein strukturierter Deutungsprozess stattfindet.
Es folgen Einzelmaßnahmen nach dem Prinzip Gießkanne – Workshops, Trainings, Informationsformate. Manches trifft, vieles verpufft – Wirkung bleibt Zufall.
Wer es ernst meint, muss genau hier investieren: in die kontextbezogene Interpretation der Ergebnisse. Kein GBU-Ergebnis spricht für sich. Es braucht Formate, in denen die Daten qualitativ „gelesen“ werden. Dabei geht es nicht um Deutungshoheit, sondern um fundierte Analyse und passende Maßnahmen:
- Was erzeugt die identifizierten Belastungen – und was liegt im Einflussbereich der Organisation?
- Welche strukturellen Widersprüche sind identifizierbar?
Dafür braucht es nicht nur Dialogräume, sondern arbeitswissenschaftliches Wissen. Denn was hier identifiziert wird, sind keine Befindlichkeiten – sondern belastbare Belastungsfaktoren, die sowohl das Leistungsvermögen der Organisation als auch die Gesundheit der Beschäftigten betreffen. Beides ist untrennbar miteinander verbunden.
Tipp: |
Arbeitswissenschaftliche Expertise Sie sichert, dass Maßnahmen auf nachweislich wirksame Belastungsfaktoren zielen. Damit trennt sie Symptomreaktion von struktureller Intervention – und eliminiert Gießkannenlösungen. |
Viertens: Was schließlich die strategische Anschlussfähigkeit sichert, ist die organisatorische Anbindung der GBU.
Die GBU darf nicht dort enden, wo Führung beginnt. Wenn die Ergebnisse an die falsche Stelle delegiert werden – etwa als Aufgabe für HR oder als Informationsgrundlage für die Linie, bleibt ihr Potenzial ungenutzt.
Die GBU entfaltet nur dann Wirkung, wenn sie in bestehende Steuerung integriert wird: in Strategiekreise, in Transformationsaktivitäten, in die Begleitung von Reorganisation oder Kulturentwicklung.
Dort, wo entschieden wird, muss die GBU gelesen, diskutiert und zum Impulsgeber gemacht werden. Nicht als Zusatzthema – sondern als konkrete Perspektive auf die organisationale Realität.
Tipp: |
Organisatorische Anbindung der GBU an Führungskreise Die GBU liefert Entscheidungsgrundlagen dort, wo klassische Steuerungsinstrumente blinde Flecken haben. Damit werden organisationale Spannungen gestaltbar, zum Nutzen der Organisation. |
Wenn das gelingt, steigt nicht nur die Qualität der Umsetzung – sondern auch die Akzeptanz. Denn wer erkennt, dass eine Maßnahme reale Verbesserungen der eigenen Arbeitsbedingungen ermöglicht, beteiligt sich nicht wegen der Pflicht, sondern aus nachvollziehbarem Eigeninteresse.
Das Ergebnis: Eine GBU, die kein Papiertiger ist – sondern ein belastbares Führungsinstrument. Kein Symbolprozess, sondern ein strategischer Resonanzraum für das, was sonst unsichtbar bleibt.
Möchten Sie mehr darüber erfahren, wie eine GBU strategisch verankert wird, sodass sie zur echten Führungsressource wird? Dann abonnieren Sie unseren Newsletter oder bleiben Sie dran: Im nächsten Beitrag berichten wir aus unserer Praxis – mit Erkenntnissen aus über 1.000 Führungsgesprächen zur GBU und den Mustern, die sich dabei gezeigt haben.